In unserem ersten Beitrag beantworten wir folgende Fragen: Was steckt hinter der Gefährdungsbeurteilung bzw. Evaluierung psychischer Belastung konkret? Wie läuft diese grundsätzlich ab? Warum ist sie wichtig?
C. Strecker / A. Giehrl
DEFINITION |
“[D]ie Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung dient dem frühzeitigen Erkennen und der Prävention von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren. Es geht nicht um die Beurteilung der psychischen Verfassung oder Gesundheit der Beschäftigten. Das Ziel ist die Förderung und Gestaltung menschengerechter Arbeit.“1
TRENDS |
Die Arbeitswelt unterliegt einem beständigen Veränderungsprozess. Dabei hat sich das Bewusstsein dafür geschärft, dass nicht nur physische, sondern auch psychische Belastungen am Arbeitsplatz von zentraler Bedeutung sind. In der aktuellen sog. VUCA-Welt, welche von Volatilität/Unbeständigkeit, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität/Mehrdeutigkeit geprägt ist, müssen Unternehmen und Individuen flexibel und anpassungsfähig sein, um erfolgreich zu navigieren und stehen vor z.T. unbekannten Herausforderungen und psychischen Belastungen.2
Konkrete Gründe für diesen Bedeutungszuwachs psychischer Belastungen liegen in der
1. Arbeitsverdichtung (z. B. Personalabbau)
2. Beschleunigung (z. B. lebenslanges Lernen)
3. Dienstleistungsorientierung (z. B. Emotions- und Interaktionsarbeit)
4. Entgrenzung (z. B. verschwimmende Trennlinien zwischen Arbeit und Freizeit)
5. Flexibilisierung (z. B. flexible Arbeitszeitmodelle)
6. Informatisierung (z. B. stete Erreichbarkeit)
7. Subjektivierung (z. B. Eigenverantwortung).3
GESETZLICHE GRUNDLAGE |
Entsprechend ist die Gefährdungsbeurteilung oder auch Evaluierung psychischer Belastungen u.a. in Deutschland und Österreich seit 2013 in den jeweiligen Arbeitsschutzgesetzen verankert. Neben der Beurteilung von körperlichen Gefährdungen/Belastungen (Expertise: Sicherheitsfachkräfte, Arbeitsmediziner*innen) sind alle Arbeitgeber*innen seitdem verpflichtet, regelmäßig auch die Beurteilung psychischer Gefährdungen bzw. Belastungen durchzuführen (Expertise: Arbeits- und Organisationspsycholog*innen).
Der Belastungsbegriff wird hierbei wertneutral verstanden und meint alle auf die Menschen physisch und psychisch einwirkenden Faktoren in der Arbeit. D.h. alle Arbeitsbedingungen, die unabhängig von einzelnen Mitarbeitenden und deren persönlichem Befinden sind.4
In den Gesetzen wurden auf Basis der internationalen (bzw. europäischen) Standards EN ISO 10075 vier Themenbereiche spezifiziert, die eine Orientierung zur Beurteilung psychischer Belastungen geben sollen. Für Deutschland findet sich diese Spezifizierung, welche ein besseres und konkretes Verständnis der Inhalte bietet, in § 5 ArbSchG in Verbindung mit der Leitlinie der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA)5, für Österreich in § 4 Abs. 1 ASchG und § 7 ASchG in Verbindung mit dem Leitfaden für die Arbeitsinspektion (2013), Abschnitte 4.3 und 5 und für die Schweiz in Art. 2 ArGV3 in Verbindung mit der Wegleitung des Leistungsbereichs Arbeitsbedingungen des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO)6.
INHALTE |
Pflicht ist die Analyse folgender Arbeitsbedingungen (= neutrale Belastungen):7
- Arbeitsaufgabe/-tätigkeit: z. B. Handlungsspielraum
- Sozial- und Organisationsklima/ Soziale Faktoren: z. B. Zusammenarbeit
- (Physikalische) Arbeitsumgebung: z. B. Arbeitsplatz, Arbeitsmittel
- Arbeitsabläufe/ Arbeitsorganisation: z. B. Führungsstruktur, Arbeitsmenge
Ergänzend werden häufig auch Beanspruchungen erfasst, d.h. Indikatoren von psychischer/physischer Gesundheit, Motivation und Leistungsfähigkeit, um deren Ist-Zustand zu erfassen. Diese sind jedoch keine Pflicht, da sie keine Arbeitsbedingungen sind, sondern individuelle Auswirkungen, die es insbesondere im Bereich der Fehlbeanspruchungen (Burnout, Fehlzeiten) präventiv zu vermeiden gilt. Um die potenzielle Gefährdung der psychischen Gesundheit einzuschätzen, genügt es auf Grund von jahrzehntelanger Forschung zu Arbeit und Gesundheit, die Arbeitsbedingungen (neutrale Belastungen) zu erfassen. Eine Kombination aus ausgeprägten Stressoren und kaum Ressourcen zeichnet z.B. ein Arbeitsumfeld mit erhöhtem Risiko für Gesundheitsbeeinträchtigungen aus. Wohingegen z.B. vorhandene Lernanforderungen, viele Ressourcen und kaum Stressoren ein persönlichkeits- und gesundheitsförderliches Arbeitsumfeld auszeichnen.
ABLAUF |
Im etablierten Regelkreis eines Evaluierungsprozesses sind sieben Schritte vorgesehen (siehe Grafik). (1) In der Vorbereitungsphase erfolgt die Kontaktaufnahme mit Verantwortlichen der Organisation und Klärung des Auftragsziels, Bildung einer Steuergruppe, (spät. jetzt) Hinzuziehen von Expert*innen/Arbeitspsycholog*innen, Festlegung von Tätigkeitsgruppen, Festlegung der passenden Methodik und Information aller Mitarbeitenden. (2) In einem festgelegten Erhebungszeitraum wird nun der IST-Zustand in der Organisation über die beschriebenen vier Dimensionen ermittelt und optional durch weitere Methoden ergänzt. (3) Anschließend erfolgen Auswertung, Beurteilung und Präsentation der Ergebnisse vor allen beteiligten Personen (mind. Steuergruppe und Sicherstellung der Information für alle Mitarbeitenden).
(4) Die Ableitung und Festlegung konkreter Maßnahmen orientiert sich an den Grundsätzen menschengerechter Arbeitsgestaltung in den Arbeitsschutzgesetzen und erfolgt durch Expert*innen, idealerweise mittels ergänzender Workshops mit den betreffenden Abteilungen/Personen und abschließend mit der Steuergruppe. (5) Im zuvor definierten Umsetzungszeitraum geschieht die Maßnahmendurchführung entweder intern selbständig oder mit Unterstützung von Expert*innen. (6) Gesetzlich verpflichtend ist auch die Durchführungs- und Wirksamkeitsüberprüfung der Maßnahmen. Mögliche Methoden: Kurzbefragungen, Workshops mit den Mitarbeitenden oder eine erneute identische Erhebung mit anschließendem Vorher-Nachher-Vergleich. (7) Die regelmäßige Fortschreibung und Dokumentation des gesamten Prozesses auf Basis der Wirksamkeitsüberprüfung und bei sich verändernden Arbeitsbedingungen ist ebenfalls Teil der Vorschriften und somit von Anfang an mitzudenken.8
FAZIT |
Insgesamt ist die Gefährdungsbeurteilung/Evaluierung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz ein wesentlicher Bestandteil eines ganzheitlichen Ansatzes zur Förderung der Gesundheit und des Wohlbefindens am Arbeitsplatz und somit Teil des betrieblichen Gesundheitsmanagements. Indem Arbeitgeber*innen den unschätzbaren Wert ihrer Mitarbeiter*innen und deren menschliche Grundbedürfnisse u.a. nach sozialer Verbundenheit, Kompetenz und Selbstbestimmung9 ernst nehmen und Maßnahmen zur Verbesserung des Arbeitsumfelds ergreifen, können sie nicht nur dazu beitragen, psychische Erkrankungen zu verhindern, sondern auch eine positive Arbeitskultur fördern, von der alle Beteiligten langfristig profitieren.
Voraussetzung dafür ist eine grundsätzliche Passung zwischen Qualifikation (Person) und Anforderungen (Job), was wiederum gut definierte Tätigkeitsbeschreibungen voraussetzt, die von einer humanistischen Haltung geprägt sind. Im Sinne der Gesundheitsförderlichkeit ist die Grundhaltung nicht die Menschen an/in die Arbeit anzupassen, sondern die Anpassung der Arbeit an das Mensch-Sein.
Quellen:
1 BGW Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege. (n.d.). Gefährdungsbeurteilung Psyche – Ein geeignetes Verfahren finden. Zugriff am 03.05.2024. Verfügbar unter https://www.bgw-online.de/bgw-online-de/themen/sicher-mit-system/gefaehrdungsbeurteilung/instrumente-gefaehrdungsbeurteilung-psyche-22292
2 Heller, J. (2019). Resilienz für die VUCA-Welt. Springer Fachmedien Wiesbaden.
3 Treier, M. (2019). Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen. Springer Fachmedien Wiesbaden.
4 BAuA Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. (2010). Psychische Belastung und Beanspruchung im Berufsleben. Erkennen – Gestalten. Zugriff am 28.05.2024. Verfügbar unter https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Praxis/A45.html
5 GDA Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie. (2017). Leitlinie Gefährdungsbeurteilung und Dokumentation. Zugriff am 03.05.2024. Verfügbar unter https://www.gda-portal.de/DE/Aufsichtshandeln/Gefaehrdungsbeurteilung/Gefaehrdungsbeurteilung_node.html
6 SECO Staatssekretariat für Wirtschaft. (2020). Wegleitung zur Verordnung 3 zum Arbeitsgesetz. Zugriff am 03.05.2024. Verfügbar unter https://www.seco.admin.ch/seco/de/home/Arbeit/Arbeitsbedingungen/Arbeitsgesetz-und-Verordnungen/Wegleitungen/wegleitung-zur-argv-3.html
7 BAuA Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. (2021). Aktuell 221. Schwerpunkt: Gefährdungsbeurteilung. Zugriff am 03.05.2024. Verfügbar unter https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Aktuell/2-2021.html
8 Glaser, J., Hornung, S., Höge, T., & Strecker, C. (2020). Das Tätigkeits- und Arbeitsanalyseverfahren (TAA): Screening psychischer Belastungen in der Arbeit. Innsbruck university press.
9 Ryan, R. M., & Deci, E. L. (2000). Self-determination theory and the facilitation of intrinsic motivation, social development, and well-being. American Psychologist, 55(1), 68-78. https://doi.org/10.1037/0003-066X.55.1.68